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Godwin, William: Politische Gerechtigkeit. London 1793

REZENSION/EN:

1793 veröffentlichte William Godwin (1756-1836), der Schriftsteller der englischen Romantik, sein Werk "Enquiry Concerning Political Justice, and its Influence on General Virtue and Happiness". Die seinerzeit von der kritischen Intelligenz auch in Deutschland beachtete Arbeit, die Godwins Ruhm als Philosoph des englischen Radikalismus begründete, kann als eines der frühen Werke des "klassischen" Anarchismus betrachtet werden. Und zwar nicht etwa, weil Godwin in seiner Untersuchung den Begriff Anarchie positiv definierte - denn dies tat er nicht -, sondern weil er in ihr wesentliche theoretische Positionen des späteren politischen Anarchismus formulierte. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß sein realer Einfluß auf die entstehende anarchistische Bewegung des 19. Jahrhunderts äußerst gering blieb. Diese wurde eher von den Theorien Proudhons und Bakunins geprägt. Es ist dem Begründer des kommunistischen Anarchismus, Pjotr Kropotkin, zu verdanken, dass Godwin und seine Theorien für den modernen Anarchismus „wiederentdeckt“ wurden.

Obschon William Godwin seitdem in allen wichtigen Werken über den modernen Anarchismus als einer seiner frühen ideologischen Repräsentanten genannt und berücksichtigt wurde, hat es von seinem Hauptwerk bislang nur Teil- oder auszugsweise Übersetzungen in deutscher Sprache gegeben. Mehr als zweihundert Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ist nun die erste vollständige deutsche Übersetzung des englischen Originals in der von Hermann Klenner herausgebenen „Schriftenreihe zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung“ unter dem Titel „Politische Gerechtigkeit“ erschienen. Die wissenschaftliche Edition der Übersetzung ist vorbildlich und erleichtert dem heutigen Leser die Erschließung dieses „Klassikers“ des modernen Anarchismus.

Godwins Werk gliedert sich in acht Bücher, in denen eine Vielfalt von Themen behandelt wird. Hervorgehoben seien die Erörterungen zu den Menschenrechten, zu Prinzipien der Regierung, zu legislativer und exekutiver Gewalt, zur Demokratie, zum Widerstand, zu Revolutionen, zur Anarchie, zu herrschaftsgeprägter Meinungsmanipulation, über Wahrheit, Willensfreiheit und Notwendigkeit, zu Verbrechen und Strafen, zu Ehe und Moral.

Begeistert von den egalitären, freiheitlichen, humanistischen Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution, entwickelt Godwin in seiner „Untersuchung der politischen Gerechtigkeit“ ein System anarchistisch-kommunistischer Ideen, das auf den Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung und eine grundlegende Neuordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens abzielte. So, wie nach ihm alle Vertreter des modernen Anarchismus, unterscheidet Godwin zwischen dem gesellschaftlichen Zusammenschluss, der natürlich und in jeder seiner Formen ein Segen ist, da er dem altruistischen Bedürfnis aller Menschen nach gegenseitiger Hilfe entgegenkommt und dem staatlichen Zusammenschluss, der unnatürlich und noch in der besten seiner Formen ein Übel ist, da er ausschließlich den egoistischen Interessen einiger weniger dient. Staat und Ungleichheit bedingen einander notwendigerweise.

Die Wurzeln für die zahlreichen Übel der bestehenden Gesellschaft sieht Godwin also in der Herrschaft des Privateigentums und in der Staatsgewalt. Um diese Übel zu beseitigen, müssen ihre Ursachen beseitigt werden. Dies dürfe jedoch nicht durch Anwendung von Gewalt und Zwang erfolgen, sondern nur durch Aufklärung, Erziehung und Bildung der Menschen. Als Anhänger der Vernunft und der Rationalität ist Godwin der Auffassung, daß die Menschen stets der Vernunft und den logischen Argumenten zugänglich sind. Die einzige Herrschaft die der Mensch akzeptieren solle, ist die Vernunft. Nur durch das Vertrauen des Beherrschten in ihr System halte sich dieses. Das Vertrauen in das System resultiert aus der Unwissenheit der Menschen. Deshalb müsse die allgemeine Bildung aller Menschen vorangetrieben werden.

Die politische Gewalt fördert Godwin zufolge hingegen nur das Entstehen neuer Autoritäten, denn die Revolution im Sinne eines Machtumsturzes ist nicht von Vernunft, sondern von Leidenschaft geprägt. Die Revolution, wie sie Godwin selbst befürwortet, soll nicht mit Gewalt, sondern mit den Mitteln der Gerechtigkeit durchgeführt werden. Revolution im Sinne Godwins ist ein Zustand der permanenten politischen und sozialen Evolution. Seien die Menschen einmal zur Überzeugung gebracht, daß eine Gesellschaft ohne Privateigentum und Zwangsregierung existieren könne, so könne auch die Vernunft ihre Ansprüche ungehindert in allen Lebensbereichen geltend machen und die Menschen zur höchsten Erkenntnis, zur sozialen Gerechtigkeit und zu sittlichem Handeln und damit auch zur Freiheit und Glückseligkeit, zu geistigem und körperlichen Wohl hinführen.

Godwin vertraut auf die Fähigkeit und Sehnsucht des Menschen zu immer höherer Wahrheitserkenntnis und sittlicher Vervollkommnung. Es kommt alles darauf an, die Ursachen zu beseitigen, die den Menschen daran hindern, zur Erkenntnis der Wahrheit und Gerechtigkeit zu gelangen, und die Vernunft zur bestimmenden Triebkraft seines Verhaltens zu machen. Da die Vernunft ihre Erkenntnisse aus den Eindrücken der Außenwelt schöpfe, könne sie aus ihr nur dann gute Eindrücke empfangen, wenn sie selbst und vor allem das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen nach den Forderungen der Vernunft und der Gerechtigkeit geordnet werden.

Obwohl Godwin mit seiner Theorie von der „accumulation of wealth“ den von Marx postulierten kapitalistischen Gegensatz von „Arbeit“ und „Kapital“ vorwegnahm, zog er nicht die marxistische Konsequenz des Klassenkampfes. Godwin geht es um das Individuum, nicht um Klassen, denn er sieht Arme wie Reiche gleichermaßen verstrickt in der Korruption, die aus dem Reichtum geboren wird. Was die Falschheit ihres Bewußtseins anbetrifft, haben Herr und Sklave sich nichts vorzuwerfen. Die Diskrepanz zwischen moralisch begründeter individueller Gleichheit und staatlich sanktionierter sozialer Ungleichheit kann nur mit den Mitteln der Aufklärung, Erziehung und Bildung der Menschen überwunden werden.

Alle Herrschaft beruht letztlich auf dem Vertrauen der Beherrschten. Ihr Vertrauen aber ist die Folge ihrer Unwissenheit. Beseitigt man diese, wie die Demokratie als Regierungsform der Übergangsphase es ermöglicht, muß Herrschaft notwendig fallen. Die Freiheit ist demnach ein Problem der Erziehung. Die Herrschenden im Zuge einer Revolution zur Aufgabe ihrer Privilegien zwingen zu wollen, erscheint Godwin als falsch, weil in Revolutionen die Leidenschaften und nicht die Vernunft regieren und Revolutionen durch Gewalt anstatt durch die Gerechtigkeit entschieden werden. Auch wäre es unklug, einen „Zustand der Freiheit“ herbeizuführen, ehe im Bewußtsein der Menschen die „Liebe zur Freiheit“ erwacht ist. Sie wüßten sie nicht vernünftig zu nützen und Orientierungsunsicherheit, Anarchie im negativen Sinne, wären die Folge.

Modern wirken auch Godwins Ansichten über die Ehe. Die Ehe ist seiner Ansicht nach die tyrannischste Form des Eigentums, eine Konsequenz der Feigheit, nicht des Mutes der Männer. Weil der Mann den Vergleich scheut und er sich nicht der Gefahr aussetzen will, eine Frau an einen Überlegenen zu verlieren, monopolisiert er ihren Besitz. Dabei beruht die Ehe auf dem romantischen Irrtum von der Ewigkeit der Liebe. Ist die Liebe vergangen, hält man an der Illusion fest, und da ein Mensch, der sich im Privatbereich Täuschungen hingibt, auch im öffentlichen Bereich keine klare Urteilskraft besitzen kann, sind die Menschen durch die Ehe befangen in einem System des Betrugs. Sagt Godwin.

Ein weiteres Hindernis auf dem Wege zur freien und gerechten Gesellschaft sieht Godwin im Strafsystem. In Vorwegnahme der Theorien der modernen Strafrechtsreformer formuliert Godwin die These von der gesellschaftlichen Vermittlung von Verbrechen. Strafe kennt nur zwei Legitimationsgründe: Der erste ist der Schutz der Gesellschaft vor dem Verbrecher, der zweite ist die Resozialisierung des Delinquenten. Diese Resozialisierung ist in Einzelhaft überhaupt nicht, allgemein im Gefängnis kaum zu erreichen. Am vernünftigsten wäre es, den Delinquenten gesellschaftlich aufzufangen, und wenn Godwin von Gesellschaft schreibt, dann meint er eine von staatlichen Zwängen weitestgehend befreite Gesellschaft.

Godwins Vorstellungen von der der Gesellschaft ähneln frappierend den Ideen, wie sie später der deutsch-jüdische Anarchist Gustav Landauer formulierte. Nach Godwin lässt sich soziales, d. h. verantwortungsbewusstes Verhalten nur in überschaubaren Gruppen erlernen, in denen jeder unter dem wachsamen Auge der Öffentlichkeit lebt. Der „milde Zwang“ der öffentlichen Meinung, den Godwin im Sinn hat, birgt nur dann nicht die Gefahr eines neuen Totalitarismus, wenn der neue, der altruistische Mensch schon Wirklichkeit geworden ist. Vorher könnte dieses Erbe puritanischen Geistes sich gegenüber abweichendem Verhalten durchaus intoleranter gebärden, als dies durch gesetzliche Normen der Fall ist.

Obwohl Godwin an einen stetigen Fortschritt hin zu einer Gesellschaft von Freien und Gleichen glaubt (das Streben nach Perfektion gehört seiner Ansicht nach zur Natur des Menschen), hält er es für wesentlich, dass der Einzelne an diesem Fortschritt mitarbeitet, um den Prozess zu beschleunigen. Das stete Bemühen um Vervollkommnung reicht aus, um allmählich die Harmonie von subjektiver und objektiver (d.h. gesellschaftlicher) Vernunft wieder herzustellen, an deren Auseinanderklaffen die gegenwärtige Gesellschaft leidet. Natürliche Freiheit findet ihre Grenze an der Vernunft. Sittliche Freiheit wäre eine Freiheit auch von Vernunft, d.h. das Individuum hätte die Möglichkeit, bewusst böse zu handeln. Eine solche Freiheit hält Godwin allerdings für abwegig, weil der Mensch als soziales Wesen sein eigenes individuelles Glück nur in Übereinstimmung mit dem Glück aller verwirklichen kann.

Godwins Untersuchung der politischen Gerechtigkeit von 1793 ist ein merkwürdiges Buch. Sein Autor hat es als Nicht-Anarchist begonnen und er hat sich im Verlauf seiner Untersuchung zum Anarchisten entwickelt. Vor und auch lange Zeit nach Godwin ist der anarchistische Gesellschaftsentwurf selten so radikal und deutlich formuliert worden, wie in der „Politischen Gerechtigkeit“ und es macht Sinn, sein Werk als Klassiker des modernen Anarchismus zu betrachten. „Gut Ding will Weile haben“: Mehr als 200 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung hat nun auch der deutsche Leser die Chance, diesen Ur-Klassiker des modernen Anarchismus im vollständigen Text zu lesen. Es ist ein lesenswertes Buch!

Jochen Schmück

Quelle: DadAWeb-Buchempfehlung

Kategorien: Klassiker des Anarchismus | Frühanarchismus | England | Französische Revolution

Dieses Dokument wurde zuletzt am 9. Mai 2010 um 05:46 Uhr geändert.
Der Titel wurde verifiziert am 20. Januar 2010 von dem DadA-L Betreuer: Markus_H.

 
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