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Neoanarchismus

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Der Begriff Neo-Anarchismus (kurz: NA; Neuer Anarchismus) beschreibt keine inhaltlich neue Kategorie, sondern stellt lediglich die Bezeichnung einer historischen Erscheinungsform des Anarchismus dar.

Entwicklungsgeschichte

Obwohl die Existenz anarchistischer Gruppen und Individuen während des Dritten Reiches und in der Nachkriegszeit nachweisbar ist, schien der Anarchismus in Deutschland als gesellschaftspolitisch relevante Theorie und Praxis seit dem Ende der Weimarer Republik "ausgestorben" zu sein. Im Zusammenhang mit der Entwicklung und Radikalisierung der Studentenbewegung bzw. " "Außerparlamentarischen Opposition" (APO) kam es seit Mitte der 1960er Jahre in der BRD und Berlin (West)jedoch zu einer Renaissance des Anarchismus. Mit Bezug auf die unterbrochene bzw. nicht mehr sichtbare historische Tradition wird dieser im Folgenden als NA bezeichnet.

Dies ist sein entscheidendes Charakteristikum: Der NA entwickelte sich nicht aus dem traditionellen "Altanarchismus". Weder in personeller noch in organisatorischer Hinsicht bestand eine Kontinuität. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass traditionelle altanarchistische Gruppen mit Erfolg entsprechendes Gedankengut in die APO hineingetragen hätten.

Der "Altanarchismus" war eine zersplitterte Bewegung, bestehend aus kleinen, politisch völlig bedeutungslosen Gruppen. Diese standen größtenteils dem Auftreten von anarchistischen Positionen im Theoriebildungsprozeß der APO und später auch einer neuen anarchistischen Bewegung anfangs ratlos, dann distanziert und sogar ablehnend gegenüber.

Einzelne Initiativen wie der "Arbeitskreis der Freunde Gustav Landauers" um Uwe Timm in Hamburg sowie die "Sozialphilosophische Arbeitsgemeinschaft" um U. Timm und Reinhold Ellenrieder in Berlin (West), bildeten die eher erfolglosen Versuche der Zusammenarbeit von alt und jung und waren die Ausnahme. Im großen und ganzen scheiterten die Kontaktversuche zwischen alten und jungen Anarchisten nicht zuletzt aufgrund ihrer unterschiedlichen kulturellen Milieus.

Die Jungen empfanden sich als Teil der allgemeinen antiautoritären Jugendrevolte, die während der 1960er Jahre angetreten war, alle tradierten gesellschaftlichen Werte in Frage zu stellen. Kommunen, "Freie Sexualität", Rockmusik und Drogenkonsum stießen auch bei diesen Vertretern der älteren Generation auf weitgehendes Unverständnis.

Neben dem Generationskonflikt existierten zwischen Alt und Jung auch theoretische Differenzen. Aufgrund ihres theoretischen Herkommens aus der antiautoritären Studentenbewegung fühlten sich die jungen Anarchisten anfangs in kritischerweise auch der neomarxistischen "Kritischen Theorie" verpflichtet. Dies wirkte auf die alten Anarchisten schockierend, die dem Marxismus generell in jeder Form entschieden feindlich gegenüberstanden. Sie hatten den historischen Gegensatz beider Strömungen – nicht zuletzt aufgrund ihrer z.T. persönlichen Erfahrungen mit dem "real existierenden Sozialismus" in der DDR – zutiefst verinnerlicht. Eine Ursache dieses Konflikts lag in den eher akademischen Wurzeln des NA.

Das Zentrum der kritischen sozialistischen Theoriebildung in der BRD und Berlin (West) war seit dem Anfang der 1960er Jahre der "Sozialistische Deutsche Studentenbund" (SDS), der zunächst der marxistischen Tradition verpflichtet war. Die Protagonisten des studentischen Protests, meist SDS-Mitglieder, stießen, grundsätzlich vom marxistischen Denken geprägt, über die Vermittlung von Kritischer Theorie, linksmarxistischem "Dissidententum" und Rätekommunismus schrittweise auf anarchistische Inhalte. So läßt sich erklären, dass es im SDS in den 1960ern zu einem antiautoritären Flügel kam.

Aus der Studentenbewegung kommend knüpfte der NA erst 1969 teilweise an die "legitime" historische Tradition des Anarchismus an:

Mit der Auflösung des antiautoritären Konsens der APO setzte ein Fraktionierungsprozeß der Neuen Linken ein, in dessen Verlauf sich sehr unterschiedliche Strömungen herauskristallisierten. Ein Teil wandte sich wieder traditionellen Konzepten der Arbeiterbewegung zu (Deutsche Kommunistische Partei[DKP], Sozialdemokratische Partei Deutschlands[SPD], Gewerkschaften). Es entstanden daneben auch "neue" autoritär-etatistische Organisationskonzeptionen der sog. K-Gruppen (Kommunistische Kleinparteien). Abgesehen davon differenzierte sich die "Neue Linke" in weitere Gruppierungen, von denen sich jede als Keimzelle einer neuen Bewegung empfand und Zulauf aus Kreisen der Schüler, Jungarbeiter und andere Anhänger der APO erhielt.

Demgegenüber versuchte die Undogmatische Linke das antiautoritäre Erbe der Revolte fortzuführen. Neben dem "Sozialistischen Büro", einem Zusammenschluss von Intellektuellen, der einen Mittelweg zwischen autoritär-bürokratischen Organisationsvorstellungen und "blinder" bzw. "reiner" Spontaneität suchte, entwickelte sich langsam das vielseitige Spektrum der Neuen Sozialen Bewegungen (z. B. Frauen-, Hausbesetzer- und Ökologiebewegung). Deren Theorie und Praxis enthielt, oft auch unbewusst, anarchistische Elemente. Zugleich formierte sich eine autonome antiautoritäre Bewegung, die sich eher selektiv auf klassische anarchistische Konzeptionen berief und theoretisch wie organisatorisch immer noch beeinflusst vom Antiautoritarismus der Studentenrevolte bewusst traditionslos blieb. Das Spektrum reichte dabei von einer "politischen" anarchistischen Hauptströmung bis zu eher emotional orientierten subkulturell-anarchistischen Initiativen.

Aufgrund der verbreiteten Experimentierfreudigkeit und starker Fluktuation zwischen den Gruppierungen sind eindeutige inhaltliche Zuordnungen und Abgrenzungen nahezu unmöglich. Indifferenz war ein entscheidendes Charakteristikum der neoanarchistischen Bewegung, wie es z. B. in der folgenden Selbstverständniserklärung junger Anarchisten vom Oktober 1972 zum Ausdruck kommt: "Wir bezeichnen als Anarchismus ein breites Spektrum revolutionär-emanzipatorischer Bewegungen mit antiautoritär-libertärem Charakter. (...) Selbst innerhalb der sich anarchistisch nennenden Bewegung finden wir analog zu den unterschiedlichen Strömungen (...) eine beachtliche Begriffsverwirrung des Wortes. Deshalb ist das Kriterium die antiautoritär-emanzipatorische Praxis." (in: Bartsch 1973)

Eine Bestandsaufnahme des neueren Anarchismus in Deutschland kann – auch aus libertärer Sicht – recht unterschiedlich ausfallen. Zwei Protagonisten des neueren Anarchismus sollen hier beispielhaft zur Sprache kommen. Horst Stowassers Fazit über den Zustand der anarchistischen Bewegung im Jahre 1995 fällt reichlich illusionslos aus: "Diese spezifisch anarchistischen Strukturen sind nicht viel mehr als das Röntgenbild einer kleinen, weltanschaulich geprägten Gemeinde. Ohne die geschilderte Diffusion in soziale Bewegungen und ihre Wurzelwerk-Funktion könnte man das getrost als das Diagramm einer Sekte abtun. Aus dieser Perspektive stellt sich der deutsche Mainstream-Anarchismus unserer Tage in der Tat als eine etwas skurrile Glaubensgemeinschaft dar. Er ist in seinem eigenen sozialen Ghetto verfangen (...). Oft genügt sich dieser Insiderkreis als eigene Zielgruppe und betreibt einen geistigen Inzest, für den das Fehlen einer Publikumszeitschrift bei gleichzeitiger Existenz von mehreren Theorieblättern ein bezeichnendes Indiz ist."

Hans Jürgen Degen gesteht den Anarchisten unter bestimmten Voraussetzungen immerhin ein Stück Zukunftsfähigkeit zu. Seiner Meinung nach haben die Anarchisten ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht und seien nicht auf der Höhe der Zeit. Für ihn besteht zunächst die Aufgabe, "(...) die anarchistischen Theorien einer radikalen und permanenten Revision zu unterziehen: das, was besonders nach 1945 von einigen wenigen als Revision formu-liert wurde, erreichte keine Breitenwirkung und verlief sich; (...) der `Neo-anarchismus´ (ab den 1960er Jahren) war a) teilweise (soweit er sich mit Marxismus verschränkte) ein Rückfall auf die Vorstufe des Anarcho-Syndikalismus: des stark vom Marxismus (mit wenig Marx) bestimmten Syndikalismus; b) ist der `Neoanarchismus´ in der Rezeption des `alten´ Anarchismus von vor 1933 fast stecken geblieben: er hat ihn durchdiskutiert, ausgewalzt, neu drapiert; deshalb ist c) der Anarchismus – eng gesehen – noch immer in dieser neoanarchistischen Verharrungsphase".

Eine Bestandsaufnahme des Anarchismus bzw. Neoanarchismus kann nicht ausschließlich anhand quantitativer Kriterien erfolgen. Was der Anarchismus historisch geleistet hat und was davon als sozialer Gebrauchswert wirklich weiterhin Bestand hat, wird nicht anhand mengenmäßigen Zahlenmaterials darstellbar sein. Welche Existenzberechtigung hat er dann überhaupt?

Wie die sich regelmäßig bestätigende historische Erfahrung zeigt, liegen seine Chancen und seine Zukunft in der Qualität seiner radikaldemokrati-schen Ideen und Wertvorstellungen. Dies hat der Einfluss neoanarchistischer Partizipation im Zuge des gesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses während der 1970er und 1980er Jahre bewiesen:

Im Zuge einer sich Anfang der 1970er Jahre entwickelnden "undogmatischen Linken" schleusten engagierte Anarchisten anarchistische Elemente in den Wertekontext der "Neuen Sozialen Bewegungen" (z.B. Ökologie-, Friedens-, Bürgerinitiativ-, Alternativbewegung) ein. Diese punktuelle Aneig-nung anarchistischer Prämissen (z.B. Dezentralität, Föderalität, Hierarchiekritik, Selbstverwaltung, gewaltfreier Widerstand, Rotationsprinzip) bildete ein verbindendes Ferment im heterogenen Spektrum dieser Bewegungen.

Erstaunlicherweise war es dieser – eher ungewollte – Reformismus, der als der eigentliche Erfolg des neueren Anarchismus gelten kann, da er quasi "durch die Hintertür", der gesamten Gesellschaft einen Demokratisierungsschub verpasste. Hat der Anarchismus mit diesem Reformismus seine historische Mission erfüllt? Wahrscheinlich nicht!

Gerade das grün-alternative Parteiprojekt hat gezeigt, dass die Vereinnahmung durch staatlich-parlamentarische Konzeptionen zur Korrumpierung und Integration basisdemokratischer Opposition führt.

Die Berechtigung moderner Anarchiekonzepte liegt im permanenten Aufzeigen eben dieser Zusammenhänge und der Propagierung und Praktizierung "eigentlicher Alternativen" – eben gesellschaftlich-emanzipatorischer und nicht staatlicher:

"Eine gesellschaftspolitische Relevanz des Anarchismus könnte von der Umsetzung einer lebenspraktischen freiheitlichen Ethik ausgehen, das heißt z.B. zu überlegen, was `das gute Leben´ eigentlich sein könnte? Was Anarchie unter heutigen Lebensbedingungen interessant machen könnte, ist z.B. Antworten zu geben auf individuelle und globale Fragen wie: Was heißt Lebensqualität mit wenig Geld oder unter Bedingungen materieller Armut? Dies im Sinne von Selbsthilfe, einer Art `Anleitung zum Glücklich-Sein´, aber auch als gesellschaftspolitisch gemeintes alternatives Angebot gegenüber einer sinnentleerten und weitgehend konsumorientierten Lebensperspektive sowie sich entsolidarisierender Sozialbeziehungen."

Gerade der Punkt "Solidarität" könnte auch für Libertäre eine Herausfor-derung darstellen. Der enorme historische Fundus des libertären Spektrums an sozialer Kreativität braucht unter den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eigentlich "nur" umformuliert werden:

"Kernpunkt dabei ist eine Neuformulierung von Solidarität. Alte Solidari-tätsformen treten in den Hintergrund, wie beispielsweise die Arbeitersolidari-tät, als eine Beziehung zwischen sozial Gleichen. Angesichts von Globalisierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen tritt statt der Gleichheit die Verschiedenheit verstärkt ins Blickfeld. Deshalb bedarf es neuer Formen von Solidarität gerade mit denen, die anders sind. Dazu sind gewaltfreie Formen der Konfliktlösung und verstärkte interkulturelle Kommunikation mehr den je erforderlich."

Literatur und Quellen

  • G. Bartsch: Anarchismus in Deutschland, Bd. II/III, Hannover 1973
  • H. M. Bock: Bibliographischer Versuch zur Geschichte des Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus in Deutschland, in: C. Pozzoli, (Hg.): Jahrbuch Arbeiterbewegung, Bd. 1: Über Karl Korsch, Frankfurt/M. 1973
  • R. Cantzen: Weniger Staat - mehr Gesellschaft. Freiheit - Ökologie - Anarchismus, Frankfurt/M. 1987
  • H. J. Degen (Hg.): Anarchismus heute - Positionen, Bösdorf 1991
  • Geronimo: Feuer und Flamme - Zur Geschichte und Gegenwart der Autonomen, Berlin 1990
  • B. Drücke: Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Ulm 1998
  • M. Henning/R. Raasch: Neoanarchismus in Deutschland. Entstehung - Verlauf - Konfliktlinien, Berlin 2005
  • G. Holzapfel: Vom schönen Traum der Anarchie - Zur Wiederaneignung und Neuformulierung des Anarchismus in der Neuen Linken, Berlin (West) 1984
  • H. Jenrich: Anarchistische Presse in Deutschland 1945 - 1985, Grafenau-Döffingen 1988
  • B. Kramer (Hg.): Gefundene Fragmente 1967-1980. Die umherschweifenden Haschrebellen & Peter Handke, Hartmut Sander, Rolf dieter Brinkmann, Rudi Dutschke, Rainer Langhans, Fritz Teufel u.a., Berlin 2004
  • G. Kurz: Alternativ leben? - Zur Theorie und Praxis der Gegenkultur, Berlin (West) 1979
  • R. Raasch: Neo-Anarchismus, in: H. J. Degen (Hg.): Lexikon der Anarchie, Bösdorf 1994
  • J. Schmück/G. Hoerig: DadA - Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus, Berlin/Köln seit 1987
  • R. Schwendter. Strömungen und heutige Erscheinungsformen des Anarchismus, in: J. Harms (Hg.): Christentum und Anarchismus - Beiträge zu einem ungeklärten Verhältnis, Frankfurt/M. 1988
  • H. Stowasser: Anarchismus Heute - Definition, Bewegung, Kritik, Vortrag in der Evangelischen Akademie Arnoldsheim (unveröffentl. Redemanuskript) 1986
  • Ders.: Wege aus dem Ghetto - Die Anarchistische Bewegung und das Projekt A, aus: R. Cantzen: Anarchismus - Was heißt das heute?, Neustadt/W. 1990.