Dieter Gebauer - Gedenkseite: Unterschied zwischen den Versionen
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Am 7. Dezember 2018 in den frühen Morgenstunden starb Dieter Gebauer, Geologe, Anarchist, Befürworter der Gewaltfreiheit und von freien Schulen, im Alter von 74 Jahren an Krebs. Seine Urne wurde am 12. Dezember 2018 auf dem Zürcher Friedhof Fluntern beigesetzt. Im Anschluss gab es ein beeindruckendes Zusammensein und einen fruchtbaren Austausch mit den Anwesenden aus seinem Freundeskreis. Im Folgenden erinnern wir an einige Wegmarken seines außergewöhnlichen Wirkens. (Red.) | Am 7. Dezember 2018 in den frühen Morgenstunden starb Dieter Gebauer, Geologe, Anarchist, Befürworter der Gewaltfreiheit und von freien Schulen, im Alter von 74 Jahren an Krebs. Seine Urne wurde am 12. Dezember 2018 auf dem Zürcher Friedhof Fluntern beigesetzt. Im Anschluss gab es ein beeindruckendes Zusammensein und einen fruchtbaren Austausch mit den Anwesenden aus seinem Freundeskreis. Im Folgenden erinnern wir an einige Wegmarken seines außergewöhnlichen Wirkens. (Red.) |
Version vom 7. März 2019, 07:02 Uhr
Dieter Gebauer ist tot
Am 7. Dezember 2018 ist unser Freund und Genosse Dieter Gebauer im Alter von 74 Jahren in Zürich gestorben. Wer seine Erinnerungen an Dieter mit uns teilen möchte, kann sie auf der Diskussions-Seite veröffentlichen. Wir übernehmen dann die Texte hier auf die Dieter Gebauer - Gedenkseite.
Falls jemand Probleme mit dem Schreiben auf der Diskussions-Seite haben sollte, der kann uns seinen Text und gerne auch Fotos zur Veröffentlichung auf der Gedenkseite per E-Mail schicken an: redaktion@dadaweb.de.
Jochen Schmück
Redaktion DadAWeb.de
Inhaltsverzeichnis
Reaktionen, Nachrufe und Erinnerungen
Von der Geologie zur Anarchie - Zum Gedenken an Dieter Gebauer (1944-2018)
Am 7. Dezember 2018 in den frühen Morgenstunden starb Dieter Gebauer, Geologe, Anarchist, Befürworter der Gewaltfreiheit und von freien Schulen, im Alter von 74 Jahren an Krebs. Seine Urne wurde am 12. Dezember 2018 auf dem Zürcher Friedhof Fluntern beigesetzt. Im Anschluss gab es ein beeindruckendes Zusammensein und einen fruchtbaren Austausch mit den Anwesenden aus seinem Freundeskreis. Im Folgenden erinnern wir an einige Wegmarken seines außergewöhnlichen Wirkens. (Red.)
In Kreisen der Graswurzelrevolution waren viele Beteiligte, u.a. Bernd Drücke, Martin Baxmeyer und auch ich, mit Dieter befreundet, in meinem Fall kontinuierlich und intensiv über 20 Jahre hinweg bis zu seinem Tod. Aber beginnen wir diesen Gedenkartikel an Dieter mit seinem Werdegang.
Kurzer Werdegang
Dieter wurde 1944 in einer kleinen Stadt in der Nähe von Berlin geboren, die heute zu Polen gehört. Damals, während des Krieges, haben einige Frauen ihre Kinder dort zur Welt gebracht, weil Berlin oft bombardiert wurde. Seine Kindheit hat Dieter in Berlin verbracht. Während der ersten vier Jahre wuchs er nur mit Mutter und Großmutter auf, weil sich sein Vater noch in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Als Dieter 13 Jahre alt war, ist die Familie nach München umgezogen. Nach dem Abitur hat er an der Universität München Geologie studiert. Seine Liebe zur Geologie hat er schon früh als Jugendlicher entwickelt, als er mit einem Kollegen Mineralien gesammelt hat und mit seinem Großvater in die Berge ging. Ab seinem 25. Lebensjahr hat Dieter dauernd in Zürich gelebt, wo er in den Siebzigerjahren seine Doktorarbeit geschrieben und weiter bis zu seiner Pensionierung, im Jahr 2008, an der ETH (Eidgenössische Technische Hochschule) Zürich gearbeitet hat. Geologie war seine Leidenschaft. Er war ein etablierter und weltweit anerkannter Wissenschaftler im Fachgebiet Geochronologie, welches sich mit der absoluten Altersbestimmung von Gesteinen befasst. Er hat fast 40 Jahre lang an der ETH Zürich geforscht und in Zusammenarbeit mit seinen Doktorand*innen, Post-docs, Arbeitskolleg*innen und seiner Lebenspartnerin, ebenfalls Geologin, unsere Kenntnisse über die Entstehung und Entwicklung verschiedener Gebirgsketten der Welt weiter gebracht und zum Teil revolutioniert. Dank seiner erfolgreichen Forschungsarbeit, die er in hochrangigen Fachzeitschriften publiziert hat, hatte er immer vom Schweizerischen Nationalfonds sein eigenes Forschungsgeld bekommen. Dies gab ihm die Unabhängigkeit und Freiheit, ab 1991 als Titular-Professor seine eigene Forschung zu betreiben – und dies gab ihm auch Zeit für seine andere Leidenschaft.
Dieters anarchistische Seite – Reisender in Sachen Anarchie
Ab dem Ende seines dritten Lebensjahrzehnts hat sich Dieter mit anarchistischen Ideen auseinander gesetzt. Er war von diesem Gesellschaftsmodell fasziniert und bis zu seinem Lebensende davon überzeugt, dass dies mit der menschlichen Natur im Einklang steht. Für ihn war es die einzige Alternative zu den misslungenen kapitalistischen und kommunistischen Systemen. Er hat sein Wissen über diese Ideen vertieft, vor allem seine Kenntnisse über die spanische Geschichte und besonders die Geschichte der spanischen Revolution, als Millionen von Menschen in anarchistischen Kollektiven, vor allem in Barcelona, ohne Chef, Staat und sogar ohne Geld gelebt haben. Solche Leute, die in den Dreißigerjahren diese Erlebnisse hatten, hat Dieter gesucht, kennengelernt und zum Teil in hohem Alter interviewt, damit deren Erfahrungen nicht verloren gehen. Federico Arcos, einen wichtigen Zeitzeugen und ehemaligen Anarchisten aus Spanien, hat Dieter mehrmals in Kanada besucht und interviewt. Darüber hinaus hat er Veranstaltungstouren in vielen Ländern Europas (z.B. Spanien, Frankreich, Österreich, Polen, Slowenien, die BRD) organisiert oder begleitet. Vor allem und über viele Jahre fuhr er mit Diego Camacho (bekannter als: Abel Paz) zu zahlreichen Vorträgen zur spanischen Revolution durch viele Länder. Im Vorfeld dieser Touren war bereits die Übersetzung der großen Durruti-Biografie von Abel Paz bei Nautilus erschienen (1), dann während der Touren der von Bernd Drücke, Martin Baxmeyer und Luz Kerkeling herausgegebene Interview-Band mit Abel Paz im Verlag AV (2) sowie im Anschluss die Übersetzungen der vierbändigen Autobiografie von Abel Paz, ebenfalls bei AV und mit tatkräftiger finanzieller Unterstützung durch Dieter (3). Nach seiner Pensionierung 2008 hat Dieter diese Beschäftigung mit der Anarchie noch intensiviert. Er war ein Lebensgenießer und wollte Sachen kombinieren, die ihm Spaß machten. So kaufte er ein Wohnmobil, und sobald die Kälte in Zürich eintraf, fuhr er nach Süd-Spanien, vor allem in die Gegend von Cabo de Gata, Andalusien, wo der die Sonne genossen hat. Er hat Tennis gespielt, mit Leuten über die spanische Geschichte, die spanische Revolution und den Bürgerkrieg aus anarchistischer Sicht diskutiert, auch dort Veranstaltungen gemacht und immer wieder noch lebende Anarchist*innen aus der Revolutionszeit überall in Spanien interviewt. Außerdem hat er libertäre Ferrer-Schulen besucht, die im Rahmen des spanischen Projekts „Paideia“ (griech.: Erziehung) organisiert sind und bei denen Lehrer*innen nur als Mentor*innen wirken, wo es weder Noten noch Strafen gibt. Weiterhin hat Dieter eine Wohnmobil-Tour mit dem individualanarchistischen US-Historiker Michael Seidman und mir, dem Autor dieser Erinnerungen, gemacht. Wir stellten im Jahr 2011 in einer einmonatigen Tour durch die BRD die deutsche Übersetzung des Seidman-Buches „Gegen die Arbeit“ vor, die im Buchverlag Graswurzelrevolution erschien. Es ging darin um Arbeitsverweigerungen und Widerstand gegen Produktivismus während der spanischen Revolution und den französischen Betriebsbesetzungen 1936-38. (4) Schließlich fuhr Dieter Gebauer jüngst Anatole Dolgoff im Wohnmobil herum, dessen Biografie seines Vaters, Sam Dolgoff, viel über die Geschichte der Industrial Workers of the World (IWW) enthält. Das Buch wird nun für den Buchverlag Graswurzelrevolution ins Deutsche übersetzt. (5) Auch mit Heleno Saña, dem Autor des Buches „Die libertäre Revolution“, erschienen bei Nautilus (6), hat Dieter Veranstaltungen organisiert, u.a. in Zürich. In Zürich gehörte Dieter außerdem einem Diskussionskreis zur spanischen Revolution sowie einem Kreis um die Zürcher Schule für Psychotherapie um den gewaltfreien Anarchisten Friedrich Liebling an.
Von der Geologie zum glücklichen Leben der Individuen im Diesseits
Als mir auf der Trauerfeier durch die Beiträge aus seinen verschiedenen Wirkungskreisen besonders die Leidenschaft Dieters für die Geologie in Erinnerung gerufen wurde, fiel mir wieder ein, wie ich Dieter kennenlernte. Es war 1998 und ich hielt einen Vortrag über Albert Camus während der Schweizer Anarchietage in Winterthur. Ich ging dabei auf Camus’ Werk „Der Mythos von Sisyphos“ ein. Im Vergleich zur Existenzgeschichte eines Steins sei die Länge eines individuellen Menschenlebens verschwindend gering. Camus’ ganzes Denken war danach ausgerichtet, wie ein Individuum in dieser absurd kurzen Lebensspanne trotzdem einen positiven Lebenswillen entwickeln und im Diesseits frei und glücklich werden könne. Nachdem ich geendet hatte, kam Dieter auf mich zu und meinte, es sei sehr wichtig, die Relation zwischen dem Alter von Steinen und einem freien individuellen Leben aufzuzeigen. Mir wurde im Gespräch klar, dass er hier über die zwei Leidenschaften seines Lebens sprach und nach einer Verbindung beider suchte. In der Folge tauschten wir uns über zwei Jahrzehnte hinweg kontinierlich über Geschichte, Theorie und Gegenwart des gewaltfreien Anarchismus aus. Wir verstanden uns blind und konnten so in die Tiefe gehen und zu Erkenntnissen vordringen, die bei inhaltlich unterschiedlich ausgerichteten Gesprächspartnern unmöglich sind. Nicht zufällig wurde Dieter über die Jahre hinweg auch zu einem umfassenden Darlehensgeber und Spender für die Publikationen des Buchverlags Graswurzelrevolution, was an den Danksagungen in vielen unserer Bücher abzulesen ist.
Dieters Vortrag am Sterbebett und sein letzter Wunsch
Im Zürcher Spital empfing Dieter am 6. Dezember 2018 den Kreis seiner Ärzt*innen und Pfleger*innen zusammen mit dem Chefarzt. Lange hatte er optimistisch gegen den Krebs gekämpft, erst jetzt wusste er seit kurzem, dass er bald sterben würde, und hatte sich damit abgefunden. Doch er richtete sich bei der Visite auf und hielt, so berichtete die Krankenschwester E. Richard auf der Trauerfeier, eine leidenschaftliche Rede an die versammelte Crew. (7) Dieter begann mit: „Ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges zu sagen!“ Und er führte aus: „Es ist möglich, dass Menschen ohne hierarchische Strukturen zusammenleben. Sie alle kooperieren auf gleicher Ebene und finden Lösungen für ihre Probleme, ohne Hierarchien.“ „Aha, und wie können wir dahin gelangen, Herr Gebauer?“, fragte der Chefarzt. Dieter redete weiter, alle hörten zu: „Es gibt Schulen, die von Francisco Ferrer in Spanien gegründet wurden, wo die Kinder ohne Anleitung von Lehrern lernen. Niemand befiehlt ihnen, was sie zu tun haben. Sie entscheiden alles selbst. Sie kooperieren, helfen sich gegenseitig und werden von Lehrern nicht bestraft oder zu etwas gezwungen. Sie haben nur Mentoren, die ihnen Vorschläge machen. Sie selbst können studieren, was sie wollen. Sie bekommen im Gegenzug Hilfe, positive Zustimmung und Freundschaft. Diese Erziehungsweise in Freiheit bringt starke Persönlichkeiten hervor, die ‚Nein’ sagen zu Korruption, Manipulation, Gewalt und Hierarchien. Sie werden selbständig denken und ihr Leben ohne Chefs organisieren, nicht von Oben nach Unten, sondern in horizontalen Strukturen. Sie brauchen keine Regierung. Diese Erziehung in absoluter Freiheit ist der grundlegende neue Weg des Zusammenlebens ohne Hierarchien. Verstehen Sie?“ Anschließend fragte Dieter die Crew, ob ihr Chefarzt sie gut behandle und ob er abweichende Meinungen und eine freie Diskussion zulasse. Und Dieter schloss seinen Vortrag wie folgt: „Eine Million Menschen lebten so in Spanien vor Franco. Es war eine großartige Erfahrung. Sie lebten in völliger Gleichheit – und ohne Regierung! Es ist möglich!“ Dieter hob die Faust in die Höhe und strahlte, so berichtete die Krankenschwester: „Viva la revolución social!“ (8) So war Dieter Gebauer. Sein letzter Wunsch ging genau in diese Richtung: Dass die Leute informiert werden, sei es mit Büchern, Diskussionen oder Veranstaltungen, dass es eine Alternative zum Kapitalismus und Kommunismus gibt, nämlich das anarchistische Gesellschaftsmodell und seine gewaltfreie Anwendung. Es ging ihm darum, dass die Leute auch darüber informiert werden, dass der Mensch trotz allem von Natur aus gut ist und bereit zur gegenseitigen Hilfe; dass die Erziehung ohne hierarchische Strukturen, Noten und Strafen starke und selbständige Menschen bildet, die ein schönes und gewaltfreies Leben führen können und es genießen! Denn nur wenn die Menschen richtig informiert sind, wird der richtige Grundstein zur Anarchie gelegt. Danke Dieter, für alles. Deinem letzten Willen werden wir nachkommen!
Lou Marin
(Die Abschnitte über Dieters Werdegang und seinen letzten Wunsch wurden von Dieters Lebenspartnerin verfasst.)
Anmerkungen:
(1): Abel Paz: Durruti. Leben und Tode des spanischen Anarchisten, Edition Nautilus, 1. Aufl. 1993, Hamburg.
(2): Bernd Drücke, Luz Kerkeling, Martin Baxmeyer (Hg.): Abel Paz und die Spanische Revolution. Interviews und Vorträge, Verlag AV, Lich 2004.
(3): Abel Paz: Feigenkakteen und Skorpione, Biografie Bd. 1, Verlag AV, Lich 1997; Abel Paz: Anarchist mit Don Quichottes Idealen, Biografie Bd. 2, Verlag AV, Lich 2008; Abel Paz: Im Nebel der Niederlage, Biografie Bd. 3, Verlag AV, Lich 2009; Abel Paz: Am Fuß der Mauer. Widerstand und Gefängnis, Biografie Bd. 4, Verlag AV, Lich 2010.
(4): Michael Seidman: Gegen die Arbeit, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011.
(5): Anatole Dolgoff: Left of the Left. My Memories of Sam Dolgoff, AK Press, Chico, Oakland, Edinburgh, Baltimore 2016.
(6): Vgl. vor allem: Heleno Saña: Die libertäre Revolution, Edition Nautilus, Hamburg 2001.
(7): Das Folgende wird zitiert nach dem Bericht von Elisabeth Richard, Krankenschwester, Bericht als Zeugin dieser Visite am 6. Dezember 2018, Spital Zürich.
(8): Zit. nach ebenda, Bericht von Elisabeth Richard.
Quelle: Graswurzelrevolution Nr. 436, Februar 2019, S. 21
www.graswurzel.net