James Guillaume
Lexikon der Anarchie: Personen
James Guillaume (geb.: 16. Februar 1844, London; gest.: 20. November 1916, Marin, Schweiz). Libertärer Pädagoge und Historiker
Inhaltsverzeichnis
Äußere Daten
James Guillaume wird in die Familie eines Neuenburger Republikaners geboren, der die Niederlassung des väterlichen Uhrengeschäfts in London leitet. Nach Neuchâtel zurückgekehrt, absolviert Guillaume dort die Schulen. Als Jüngling schreibt er schon Dramen und Romane. Er immatrikuliert sich an der philosophischen Fakultät der Universität Zürich (Altphilologie, deutsche Sprache, Literatur), muß nach vier Semestern das Studium aber abbrechen (Finanznot der Eltern; Guillaume hatte vier Geschwister). Ab 1864 arbeitet Guillaume als Lehrer an der Industrieschule in Le Locle. 1869 aufgrund seiner politischen Aktivität abgewählt, leitet er bis 1872 eine kleine Druckerei seines Vaters, erteilt Privatstunden und übersetzt fremdsprachige Texte. 1877 versammeln sich die jurassischen Anarchisten zu ihrem 8. Kongreß in Bern (am Anlaß ist auch Peter Kropotkin beteiligt, der Guillaume 1871 in Zürich kennengelernt hatte). Aufgrund eines Zwischenfalls (man ließ sich die rote Fahne nicht verbieten) entsteht eine Schlägerei. Wegen „Raufhandels, Gebrauchs lebensgefährlicher Instrumente sowie wegen Widersetzlichkeit gegen Behörden“ wird Guillaume mit vielen anderen angeklagt. Er wird schließlich zu vierzig Tagen Gefängnis verurteilt. Inzwischen verheiratet (Tod der Gattin: 1901), mit seinen Eltern zerstritten und selber Vater eines Sohnes, geht Guillaume mit seiner Familie nach Paris. In die Schweiz sollte er fortan nur noch besuchshalber kommen. In Frankreich enthält er sich während der nächsten zwanzig Jahren jeden politischen Handelns. Für Ferdinand Buissons „Dictionnaire“ erarbeitet er Artikel und ist als Sekretär der „Revue Pédagogique“ tätig. Am Schluß seines Lebens unterstützt er die französischen Gewerkschaften. In Paris genießt Guillaume die Meinungsäußerungsfreiheit, die ihm in der Schweiz nicht zugestanden worden war. Ein aggressiver Reflex gegen die deutsche Linke zeichnet seine letzten Jahre aus: er wird zum patriotischen Jakobiner. 1916 schwinden Guillaumes Kräfte: Er zieht sich in die Schweiz zurück, wo er in einem Altersheim stirbt. Im Pariser Friedhof Montparnasse wird er begraben.
Politische Entwicklung
Biographiebedingt verläuft Guillaumes politische Entwicklung zweigeteilt: a) Zusammen mit dem um vierzig Jahre älteren Constant Meuron gründet der junge Guillaume, zum radikalen Sozialisten geworden, 1866 die internationale Sektion Le Locle (zunächst für Mitglieder), die er am Genfer Kongress der Internationale vertritt. Ab 1868 erscheint, von Guillaume und Meuron redigiert, die kollektivistisch ausgerichtete Zeitung „Progrès“. Eine wichtige Station im politischen Leben Guillaumes bringt das Jahr 1872: Anläßlich des Kongresses der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) im Haag greift Guillaume den Generalrat an. Zugleich verwahrt er sich gegen ein Mißverständnis: Zum einen sei die Idee der internationalen Verbindung der Arbeiter das Ergebnis der ökonomischen Bedingungen. Sie entstammte demzufolge nicht dem philosophischen Denkens von Karl Marx. Zum anderen seien Guillaume und seine Anhänger zwar auch Politiker, aber „negative Politiker“, die Parlamentarismus und Regierung bekämpften und zudem die Zerstörung des Staates in jeder Form sowie den Aufbau des kommunalen Föderativsystems erstrebten. Die allmähliche Bewegung hin zu diesem „abstentionistischen Kurs“ hat Guillaume seiner Bekanntschaft mit Michael Bakunin (1869) zu verdanken. Das bedeutet, auf die Situation in der Schweiz bezogen: Am ersten schweizerischen Arbeiterkongreß in Olten bezeichnet Guillaume 1873 die beantragte Einsetzung eines „Bundeskomitees“ als schädlich: Er befürwortet lokale Gewerkschaften. Gegen die fünf jurassischen Stimmen wird die Gründung eines zentralisierten schweizerischen Arbeiterbundes beschlossen. Nach der Abspaltung von der Internationale ist eher Guillaume, weniger M. Bakunin, die Regruppierung der föderalistischen, autonomistischen Kräfte in der „Fédération jurassienne“ (Jura-Föderation) zu verdanken. b) Guillaume hat das allmähliche Zusammenbrechen der „Fédération jurassienne“ miterlebt. In Frankreich engagierte er sich nur noch schulpolitisch, in der Bewegung für eine laizistische Schule. Zum hundertjährigen Jubiläum der Französischen Revolution sollte Guillaume in Zusammenarbeit mit dem Erziehungsminister deren Protokolle publizieren. Im Syndikalismus der CGT sieht Guillaume schließlich den Erben der Ersten Internationale. Ihm versucht er, seine Erfahrungen weiterzugeben. In der Konkretion des radikalen Syndikalismus sieht er persönlich eine neue Lebensaufgabe. Dies führt ihn gewissermaßen wieder zurück: Er versucht in der Folge, seine alten Freunde in der Schweiz vom revolutionären Syndikalismus zu überzeugen (fünf Artikel zum „Collectivisme de l’Internationale“, 1903).
Eigene Theorieausbildung
Guillaume akzeptiert zwar die „Propaganda der Tat“, wehrt sich aber im Streit mit Paul Brousse gegen deren extremistische, gewalttätige Formen, die – wie das Beispiel der Auseinandersetzung in Bern zeige, nicht zum Ziel führe. Guillaume, in Frankreich pädagogisch tätig, arbeitet historisch (Sein „Pestalozzi“ ist heute noch lesenswert). Eine pädagogische Theorie hat Guillaume zwar vermutlich bedacht, aber ebenso wenig exponiert wie eine libertäre.
Stellenwert Guillaumes innerhalb des libertären Spektrums
Guillaume, Radikaler von Hause aus und Lehrer, ist zunächst Organisator der libertären Bewegung im Jura. Er baut Sektionen auf, ediert Zeitungen und Zeitschriften, leitet Versammlungen und knüpft Beziehungen zum In- und Ausland. Nach seinem Wegzug aus der Schweiz treten seine pädagogisch-historischen Interessen in den Vordergrund seines Wirkens: er wird zum Chronisten der Französischen Revolution („Protokolle“ des „Comité d’Instruction publique de la Législative et de la Convention“), und der Internationale 1864-1878 (4 Bde., 1905-1910). Am Schluß seines Lebens stürzt er sich erneut in die organisatorische Arbeit, als er die Spitzen der französischen Gewerkschaften mit den sozialistischen Parteien in der Schweiz zusammen zu bringen trachtet. Sein Ziel ist nicht mehr die libertäre „Föderation“, sondern eine „schweizerische CGT“.
Literatur u. Quellen:
Wichtigste Werke
- J. H. Pestalozzi, Zürich 1977 (Neuaufl. v. 1890)
- L’Internationale, Documents et Souvenirs (1864-1878), (4 Bde.), Paris 1905-1910
- Etudes révolutionnaires (Marx et Bakunin), Paris 1908
- Autobiographie, in: La Révolution prolétarienne, Nr. 116, Paris 5. April 1931
Quellen
- J. Langhard: Die anarchistische Bewegung in der Schweiz, Berlin 1903 (rep., Glashütten/Taunus 1975
- J. Petitpierre: La famille Guillaume, in: Patrie neuchâtelaise, vol. IV, S. 181-217, Neuchâtel 1955
- D. Roth: James Guillaume. Seine Jugend (1862-1868), in: Revue suisse d’histoire, vol. 15, fasc. l, 1965, S. 30-86
- M. Vuilleumier: Les archives de James Guillaume, in: Le Mouvement social, ner. 48, Juli/September 1964, S. 95-108
- M. Vuilleumier: James Guillaume, in: James Guillaume: L’Internationale, Vol I, Genève 1980, S. I-LVII
Autor: Hans Ulrich Grunder
Quelle: Dieser Artikel erschien erstmals in: Lexikon der Anarchie: Encyclopaedia of Anarchy. Lexique de l'anarchie. - Hrsg. von Hans Jürgen Degen. - Bösdorf: Verlag Schwarzer Nachtschatten, 1993-1996 (5 Lieferungen). - Loseblattsammlung in 2 Ringbuchordnern (alph. sortiert, jeder Beitrag mit separater Paginierung). Für die vorliegende Ausgabe wurde er überarbeitet.
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